Am Anfang des 21. Jahrhunderts

Mittwoch, Juni 27, 2007

Hans-Jürgen Krahl oder der lange Weg von Ludendorff zu Bloch

Hans-Jürgen Krahl (1943-70) war neben Rudi Dutschke einer der führenden Köpfe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Seine eigene intellektuelle und politische Entwicklung und eine allgemeine Analyse der weltpolitischen Situation stellte er im Oktober 1969 in Form einer Aussage während des sogenannten Senghor-Prozesses dar:




"Angaben zur Person zu machen, kann nicht heißen, auch nicht im Hinblick auf ein Gericht wie dieses, zu definieren, was man heute noch hämisch genug "Persönlichkeit", nennt. Es kommt darauf an, dass wir den Erfahrungshintergrund darstellen, der den Politisierungsprozess und damit auch die Studentenbewegung, so wie sie in ihrer antiautoritären Phase sich gebildet hat, erklärt. Und es sind, was meine Person anbelangt, sehr andere Erfahrungszusammenhänge als die des Genossen Amendt. Ich musste aufgrund meiner Herkunft sehr viel längere Umwege machen, um die bürgerliche Klasse, der ich entstamme, zu verraten. Da ich aus einem unterentwickelten Land komme, nämlich aus Niedersachsen, und zwar aus den finstersten Teilen dieses Landes, war es mir noch nicht einmal vergönnt, selbst im Rahmen der bürgerlichen Klasse nicht, die aufgeklärte Ideologie dieser Klasse zu rezipieren; und ich meine, dass eine kurze Darstellung dieser Ideologie notwendig ist, weil diese Ideologien, die ich selbst kennengelernt habe, mit denen ich mich identifizieren musste, denjenigen ähnlich sind, die auch Themen dieses Prozesses bilden werden, nämlich denen Senghors. In Niedersachsen, jedenfalls in den Teilen, aus denen ich komme, herrscht noch zum starken Teil das, was man als Ideologie der Erde bezeichnen kann, und so habe auch ich mich, als ich meinen politischen Bildungsprozess durchmachte, zunächst nicht anders als im Bezugsrahmen der Deutschen Partei bis zur Welfenpartei bewegen können. Ich konnte mir nicht einmal die Ideologien erarbeiten, die Liberalität und Parlamentarismus bedeuten, - wenn man bedenkt, dass die Dörfer, in denen ich aufgewachsen bin, jene Nicht-Öffentlichkeit noch pflegen in ihren Zusammenkünften, die an die Rituale mittelalterlicher Hexenprozesse erinnern. Wenn man davon ausgeht, dass heute noch in vielen Teilen der Bundesrepublik, vom bayerischen Wald bis zur niedersächsischen Heide, finsterste Ideologien der Mystik stattfinden, so war es sehr verständlich, dass mich mein Bildungsprozess zunächst einmal in den Ludendorffbund trieb, sodass ich begriffliches Denken nicht anders als aus der Mystik Meister Eckharts und Roswithas von Gandersheim erfahren habe, d.h. Ideologien, die, wenn man sie marxistisch interpretieren will, sicherlich ausgelegt werden können im Sinne eines utopischen Denkens, wie es Ernst Bloch getan hat, die aber, wenn man sie aus dem Erfahrungszusammenhang der herrschenden Klasse rezipiert, finsterste Unmündigkeit reproduzieren. [...]"



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Donnerstag, Juni 14, 2007

US-Politik förderte "religiöses Korsett" im Irak

NTV, 13.6.07:

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Dass es im Irak überhaupt zu einer Gruppenbildung entlang konfessioneller Trennlinien gekommen ist, lastet Henner Fürtig vom Institut für Nahost-Studien in Hamburg vor allem der Politik der USA seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 an. Die Entstehung nach Religion und Volksgruppe getrennter Wohnviertel in Bagdad etwa sei früher undenkbar gewesen: "Unter der Baath-Partei war das eine weitgehend säkulare Gesellschaftsstruktur." Die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten sowie Arabern und Kurden seien im Zuge der Herausbildung eines gemeinsamen Nationalgefühls im modernen Irak zwar nicht verschwunden, aber längst von Gegensätzen etwa zwischen Arm und Reich oder Stadt und Land überlagert gewesen.

"Der grundlegende Fehler war, dass die USA nach dem Sturz Saddams nicht bei diesen neuen Identitäten angesetzt haben", sagt Fürtig. So sei bei der Schaffung der Übergangsregierung im Frühjahr 2003 reflexartig zu einem ethnischen und religiösen Proporzsystem gegriffen worden. "Das hat die Menschen quasi in ein religiöses und ethnisches Korsett gezwungen." Als Folge würden bis heute praktisch alle politischen Anliegen in ein entsprechendes Vokabular verpackt.

"Wenn die USA wirklich demokratisieren wollten, hätten sie im Grunde bei den Mittelschichten ansetzen müssen", sagt Fürtig. Dabei habe es diese im Irak mehr als in den meisten anderen Ländern der Region gegeben. "Man hat die scheinbar leichteste Lösung gewählt, die aber langfristig die größten Probleme aufwirft", resümiert der Wissenschaftler.
[...]"

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