Hans-Jürgen Krahl oder der lange Weg von Ludendorff zu Bloch
Hans-Jürgen Krahl (1943-70) war neben Rudi Dutschke einer der führenden Köpfe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Seine eigene intellektuelle und politische Entwicklung und eine allgemeine Analyse der weltpolitischen Situation stellte er im Oktober 1969 in Form einer Aussage während des sogenannten Senghor-Prozesses dar:
"Angaben zur Person zu machen, kann nicht heißen, auch nicht im Hinblick auf ein Gericht wie dieses, zu definieren, was man heute noch hämisch genug "Persönlichkeit", nennt. Es kommt darauf an, dass wir den Erfahrungshintergrund darstellen, der den Politisierungsprozess und damit auch die Studentenbewegung, so wie sie in ihrer antiautoritären Phase sich gebildet hat, erklärt. Und es sind, was meine Person anbelangt, sehr andere Erfahrungszusammenhänge als die des Genossen Amendt. Ich musste aufgrund meiner Herkunft sehr viel längere Umwege machen, um die bürgerliche Klasse, der ich entstamme, zu verraten. Da ich aus einem unterentwickelten Land komme, nämlich aus Niedersachsen, und zwar aus den finstersten Teilen dieses Landes, war es mir noch nicht einmal vergönnt, selbst im Rahmen der bürgerlichen Klasse nicht, die aufgeklärte Ideologie dieser Klasse zu rezipieren; und ich meine, dass eine kurze Darstellung dieser Ideologie notwendig ist, weil diese Ideologien, die ich selbst kennengelernt habe, mit denen ich mich identifizieren musste, denjenigen ähnlich sind, die auch Themen dieses Prozesses bilden werden, nämlich denen Senghors. In Niedersachsen, jedenfalls in den Teilen, aus denen ich komme, herrscht noch zum starken Teil das, was man als Ideologie der Erde bezeichnen kann, und so habe auch ich mich, als ich meinen politischen Bildungsprozess durchmachte, zunächst nicht anders als im Bezugsrahmen der Deutschen Partei bis zur Welfenpartei bewegen können. Ich konnte mir nicht einmal die Ideologien erarbeiten, die Liberalität und Parlamentarismus bedeuten, - wenn man bedenkt, dass die Dörfer, in denen ich aufgewachsen bin, jene Nicht-Öffentlichkeit noch pflegen in ihren Zusammenkünften, die an die Rituale mittelalterlicher Hexenprozesse erinnern. Wenn man davon ausgeht, dass heute noch in vielen Teilen der Bundesrepublik, vom bayerischen Wald bis zur niedersächsischen Heide, finsterste Ideologien der Mystik stattfinden, so war es sehr verständlich, dass mich mein Bildungsprozess zunächst einmal in den Ludendorffbund trieb, sodass ich begriffliches Denken nicht anders als aus der Mystik Meister Eckharts und Roswithas von Gandersheim erfahren habe, d.h. Ideologien, die, wenn man sie marxistisch interpretieren will, sicherlich ausgelegt werden können im Sinne eines utopischen Denkens, wie es Ernst Bloch getan hat, die aber, wenn man sie aus dem Erfahrungszusammenhang der herrschenden Klasse rezipiert, finsterste Unmündigkeit reproduzieren. [...]"
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