Am Anfang des 21. Jahrhunderts

Montag, Juni 13, 2011

"Die Rache der Empörten"

13.06.2011, taz
http://taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/die-rache-der-empoerten/

Demonstranten kündigen Klassenkompromiss auf
Die Rache der Empörten
KOMMENTAR VON MILTIADIS OULIOS http://www.blogger.com/img/blank.gif


Am Mittelmeer weht ein neuer Wind. In Tunis und Kairo hat er Diktatoren gestürzt - in Madrid und Athen rüttelt er an der parlamentarischen Demokratie in ihrer jetzigen Form. Die griechischen Aganaktisméni demonstrieren dagegen, dass ihr Staat nur die Interessen der Vermögenden bedient und die Spaltung zwischen Arm und Reich forciert. Das ist der Ausgangspunkt für den Zorn der "Empörten".
Seit über zwei Wochen kommen jeden Abend vor dem griechischen Parlament und an anderen zentralen Orten Griechenlands riesige Menschenmassen friedlich zusammen. Auf dem Platz der Verfassung ("Syntagma") in Athen finden Volksversammlungen statt, auf denen das Rederecht ausgelost wird und die live im Internet übertragen werden. Bemerkenswert wenig wird davon in Deutschland berichtet.
Wenn in Deutschland darüber diskutiert wird, ob "die" Griechen denn schon genug eingespart hätten, um sich die nächste Tranche von Hilfskrediten zu verdienen, wird die Gerechtigkeitsfrage ausgeklammert. Die aber stellen die Menschen auf dem Syntagma-Platz. Geht in einer Demokratie nicht alle Macht vom Volk aus? Nun, der Souverän meldet sich gerade zurück. Seine Botschaft: "Wir wollen nicht, dass unsere Zukunft über unsere Köpfe hinweg entschieden wird."
Regelmäßig reisen die Vertreter der Troika von EU, EZB und IWF nach Athen und sagen dem Premier Giorgos Papandreou, was er zu tun hat. Ergebnis: Der Staat hat im Innern längst den Zahlungsausfall erklärt. Es geht nur noch darum, die Schuldzinsen zu begleichen. Die Demokratie zur Bedienung von Zinsen auszuhebeln ist jedoch verfassungswidrig, sagen griechische Sozialverbände, die gegen die Kreditvereinbarungen vor dem Obersten Verwaltungsgericht geklagt haben. Nach über einem halben Jahr steht eine Entscheidung noch aus.

Teufelskreis der "Hell Debits"

Ist das Vorgehen der Regierung Papandreou und der internationalen Institutionen überhaupt legitim? Wir wissen spätestens seit Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008, dass wir eine globale Finanzblase haben. Deren Ursachen liegen in der virtuellen Vermehrung von Geld, das realwirtschaftlich nicht existiert. Und in der Anhäufung von Vermögen bei einem kleinen Teil der Weltbevölkerung. Es gibt Kapital, das weder verbraucht noch investiert werden kann und das dennoch profitable Anlagemöglichkeiten sucht. Es ist egal, ob dies zahlungsunfähige US-Hausbesitzer, irische Banken oder der griechische Staat sind.
Die Bevölkerung in Griechenland wird also gezwungen, den Gürtel immer enger zu schnallen, damit Zahlen im Computer von einem Konto aufs andere wandern können - für Geldwerte, die niemals bei realen Menschen zur Befriedigung realer Bedürfnisse ankommen. Hohe Schulden hatte der griechische Staat schon in den 90er Jahren. Explodiert sind sie aber erst nach der Einführung des Euro durch den Teufelskreis der "Hell Debits": Die staatlich kontrollierten griechischen Banken wurden zu willigen Abnehmern von immer mehr toxischen Staatsanleihen; Finanzakteure aus aller Welt reihten sich gern ein.

"Die verkaufen unser Land"

Die Weltfinanzkrise hat den griechischen Staat noch einmal 28 Milliarden Euro gekostet. Die "empörten Bürger" in Griechenland haben das Gefühl, dass sie zum Erhalt eines undurchschaubaren Finanz- und Schuldensystems immense Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. "Die verkaufen unser Land", lautet der gängige Slogan.
Das Establishment in Hellas distanziert sich geradeheraus von den "Empörten": Das seien doch alles Leute, die zuvor von der Vetternwirtschaft versorgt wurden und jetzt, wo es nichts mehr zu verteilen gebe, sauer würden. Nun, das stimmt sogar zum Teil. Vor allem aber sind die Empörten viele junge Leute, die sich darauf geeinigt haben, politische Parteien von den Versammlungen auszuschließen. Damit lehnen sie die politischen Parteien als Grundpfeiler der griechischen Vetternwirtschaft und der Selbstbedienung beim Staat ab.
Diese Leute schreien nicht nur "Diebe, Diebe!" in Richtung der Parlamentarier. Sie skandieren nicht bloß, dass sie die Schulden nicht bezahlen wollen, weil sie diese nicht gemacht hätten. Sie kündigen im Grunde auch den in Griechenland herrschenden Klassenkompromiss auf.
Der öffentliche Dienst ist der einzig nennenswerte Sozialstaat, den sich Griechenland geleistet hat und der zugleich die Gesellschaft spaltet. Wer in Hellas arbeitslos wird, bekommt nach einem Jahr gar nichts. Für den deutschen Hartz-IV-Satz gehen viele dort Vollzeit arbeiten. Die Sparpakete der Troika sind nun den öffentlich Bediensteten - den "Versorgten", wie es in Griechenland heißt - ans Leder gegangen, ohne den anderen eine Hoffnung anzubieten und die Reichen nennenswert zur Kasse zu bitten: Gemeint sind damit Banken, Versicherungen, vermögende Anleger und die griechischen Millionäre, die ihr Geld in der Schweiz oder auf den Kaimaninseln bunkern.

Papandreous Panikreaktion

Aus Angst vor einer Aussperrung durch die "Empörten" hat die griechische Regierung den Termin verschoben, zu dem das neue Sparpaket beschlossen werden soll. Weil Papandreou mit der parlamentarischen Opposition keine Einigung zustande bringt, brachte er sogar zwischenzeitlich eine Volksabstimmung ins Spiel.
Die Bewegung auf dem Syntagma-Platz geht unterdessen weiter. Auf den allabendlichen Versammlungen der besonders Engagierten wird mit viel Verve "direkte Demokratie" gefordert. Längst kursieren Vorschläge für eine neue Verfassung Griechenlands, die auf dem Platz zur Abstimmung anstehen: mit Direktwahl der Abgeordneten, der Abschaffung des Parteizwangs, einem Verbot für Parlamentarier, Beziehungen zu Unternehmen zu unterhalten, der Lockerung der Amnestie für Politiker bis hin zur Abstimmung von Gesetzen durch das Volk via Internet und SMS.
Vor einem Jahr hätten zum Tag des Generalstreiks wütende Massen beinahe das griechische Parlament gestürmt. Am Rande der Demonstration gab es drei Tote. Konzepte waren damals nicht zu erkennen. Diesen Vorwurf kann man den "Empörten" von heute nicht mehr machen - wir sollten sie ernst nehmen.


MILTIADIS OULIOS, 38, ist freier Journalist und lebt in Düsseldorf. Er arbeitet als Autor für den WDR-Hörfunk und für Zeitungen. Im WDR-Funkhaus Europa moderiert er die deutsch-griechische Radiosendung "Radiopolis".

Mittwoch, Juni 08, 2011

Die Spanier zeigen uns einen Ausweg

taz, 5.6.2011
Die Spanier zeigen uns einen Ausweg
Aufbruch der Vielen
KOMMENTAR VON RAUL ZELIK

Die Massenproteste von Madrid und Barcelona haben viele überrascht. Die spanische Gesellschaft hatte mit der Transición, dem Ende der 1970er-Jahre zwischen Franquisten, Königshaus und Linksparteien ausgehandelten Kompromiss zur Modernisierung des Landes, eine rasante Entpolitisierung erlebt. Und ausgerechnet diese Gesellschaft bringt heute neue Formen politischer Bewegung hervor?
Neu daran ist, dass der Widerstand gegen die Umverteilung von unten nach oben mit einer radikaldemokratischen Praxis im öffentlichen Raum verbunden wird. Man demonstriert gegen die Sparprogramme der spanischen Regierung, mit denen Spekulationsvermögen und - nicht zuletzt deutsche - Banken gerettet werden sollen. Man demonstriert aber auch gegen die real existierende Demokratie. "Wir lassen nicht länger zu, dass andere für uns sprechen. Wir wollen selber sprechen", lautet eine der zentralen Losungen der Revolte.
Die Demonstrierenden selbst haben ihren Protest in eine Reihe mit den arabischen Bewegungen gestellt und die Puerta del Sol als europäischen Tahrirplatz bezeichnet. Keine schlechte These: Soziale und politische Teilhabe sind auch in Europa uneingelöste Versprechen. Doch wohl noch interessanter als der Bezug zur arabischen Revolte sind die Parallelen zu den Bewegungen, die den lateinamerikanischen Kontinent in den vergangenen 20 Jahren verändert haben.

Es begann in Lateinamerika

Auch in Argentinien, Venezuela oder Kolumbien entzündete sich der gesellschaftliche Widerstand an einer Austeritätspolitik, mit der die Kosten der ökonomischen Krise nach unten abgewälzt wurden. Auch dort richtete sich die Wut gegen die Repräsentation der politischen und medialen Apparate: "Sie sollen alle abhauen", lautete das Motto in Argentinien 2001. Und in Venezuela stürmten die Bewohner der Armenviertel 1989 ganz einfach die Einkaufsmeilen, um sich jenen Wohlstand zu holen, den man ihnen immer versprochen hatte.
Und schließlich war, wie heute in Spanien, die politische Linke vor den lateinamerikanischen Revolten völlig marginalisiert gewesen. Das scheint kein Zufall zu sein: Gerade weil niemand beanspruchen konnte, die Ausgeschlossenen zu repräsentieren - weder Politik noch Gewerkschaften, Medien oder Intellektuelle -, fand die Gesellschaft, zumindest phasenweise, zum Kern der Demokratie zurück: zur Artikulation der Vielen.
Die Krise der Repräsentation hat nun offensichtlich also auch Westeuropa erreicht. Aber woran liegt das?
Der britische Politologe Colin Crouch erklärte den Legitimationsverfall der politischen Systeme in seinem vielbeachteten Essay "Postdemokratie" (2005) mit dem Erstarken der ökonomischen Lobbys, die den demokratischen Prozess gezielt unterlaufen. Das ist nicht falsch und bleibt doch an der Oberfläche. Folgt man Crouch, dann war nämlich in den Zeiten des Wohlfahrtsstaats noch alles weitgehend in Ordnung.

Zwei-Klassen-Demokratie

Das Problem aber ist grundsätzlicherer Natur. Da ist einerseits die Tatsache, dass die liberale Demokratie von einem Widerspruch durchzogen wird: Politische Gleichheit und Freiheit, wie sie die Demokratie postuliert, sind mit der real existierenden Ungleichheit im Kapitalismus nicht wirklich vereinbar. Am konkreten Beispiel wird das deutlich: Für Kapitaleigentümer hat die Presse- und Meinungsfreiheit eine reale Bedeutung; für den Hartz-IV-Empfänger hingegen handelt es sich um ein formales Recht. Denn auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse kann er faktisch keinen Einfluss nehmen.
Die bürgerlich-liberale Demokratie bleibt in dieser Hinsicht gepanzert. Parteien und parlamentarische Apparate sorgen dafür, dass der Widerspruch zwischen sozialer Herrschaft und politischer Gleichheit nicht eskaliert. Die Anliegen der Mehrheit werden zwar nicht vollständig ignoriert, aber sie werden herrschaftlich gefiltert. Als Wähler der Reformparteien erleben wir das regelmäßig: Die von uns gewählten Regierungen machen jene Politik, die wir doch eigentlich abgewählt haben. Rot-Grün führte Deutschland in den Krieg und setzte Hartz IV durch, in Berlin hat der rot-rote Senat die Privatisierung des öffentlichem Eigentums forciert.
Darüber hinaus haben wir es aber auch mit einem allgemeinen Widerspruch zu tun. Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos, der in den letzten Jahren zur führenden Stimme kritischer Theorie in Lateinamerika aufstieg, beschreibt unsere Gesellschaften als "Demokratien geringer Intensität", in denen "Inseln demokratischer Beziehungen in einem Archipel der (ökonomischen, sozialen, rassischen, sexuellen, religiösen) Tyranneien" angesiedelt sind.

Revolte gegen die Finanzmärkte

Die demokratische Revolution steht somit auch nach über 200 Jahren noch am Anfang. Aus all diesen Gründen fallen politischer Diskurs und Realität immer weiter auseinander.
Bislang hatte man den Eindruck, dass Europa auf diese Krise von Repräsentation und Politik nur mit unsolidarischen, rassistischen Reflexen zu reagieren weiß. Nur der Rechtspopulismus, der die Angst vor dem sozialen Abstieg gegen die gesellschaftlich Marginalisierten - gegen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Migranten - richtet, hat bisher von der Krise profitiert. Die "spanische Revolution" zeigt nun einen anderen Ausweg auf. Es ist möglich, solidarisch zu handeln und mit eigener Stimme zu sprechen.
In Lateinamerika haben die Revolten der letzten zwanzig Jahre, ebenso wie jetzt in Nordafrika, zu einem Bruch des politischen Systems geführt. Ein so eindeutiger Ausgang zeichnet sich in Europa nicht ab. Tatsächlich ist völlig unklar, ob und wie es mit der "Bewegung 15-M" weitergeht.
Trotzdem hat diese Bewegung, in Spanien wie anderswo in Europa, eine klare Perspektive. Wenn der Widerstand, der sich in Spanien und Griechenland zu artikulieren begonnen hat, sich ausbreitet, kann die Umverteilungspolitik der EU, die die Finanzkrise von den Bedürftigen bezahlen lässt, zu Fall gebracht werden. Die Revolte hat das Potenzial, die Macht der Finanzmärkte brechen. Das ist mehr, als sich jede Reformregierung heute realistisch vornehmen kann.


Raul Zelik ist ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Politologe. Derzeit lehrt er als Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Zuletzt erschien von ihm "Nach dem Kapitalismus. Perspektiven der Emanzipation" (VSA Verlag, 2011).